So könnte sich die Thur nach der Renaturierung ausbreiten.
14.05.2025 00:00
«Wir haben geschlafen»
Der neue IG Thur-Präsident Rolf Kuhn möchte die Interessengemeinschaft aus dem Schlaf wecken und Druck machen
Rolf Kuhn steht neu an der Spitze der Interessengemeinschaft Thur (IG Thur). Der bisherige Vizepräsident übernimmt die Nachfolge von Moritz Tanner. Die Landwirtschaftsvertreter hätten bei der Entwicklung des Konzepts Thur 3 zu lange geschlafen, gesteht sich Kuhn ein und kündigt an, die Interessen der Bauern stärker zu vertreten.
Region «Grundsätzlich gehen wir in die richtige Richtung», sagt Rolf Kuhn im Gespräch. Doch wie sich das Konzept Thur 3 entwickelt, sei höchst fragwürdig. Ein zentraler Kritikpunkt der IG Thur ist die Grundlage der heutigen Gewässerplanung: Sie stützt sich auf Kartenmaterial aus dem 17. Jahrhundert. «Damals lebten rund eine Million Menschen in der Schweiz – heute sind es neun Millionen», so Kuhn. Die stark gewachsene Bevölkerung brauche mehr Nahrungsmittel und damit auch mehr landwirtschaftliche Flächen.
«Diese historische Ausgangslage ist völlig unzeitgemäss. Wer sie heute noch als Basis nimmt, ignoriert die realen Bedürfnisse der Gesellschaft.» 212 Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche könnten durch die Renaturalisierung der Thur verloren gehen. Beispiele (siehe Box) zeigen die Auswirkungen. «Solche Produktionskapazitäten einfach aufzugeben, kann sich eine wachsende Bevölkerung nicht leisten», mahnt Kuhn. Die Bedeutung der Eigenproduktion sei insbesondere während der Corona-Pandemie deutlich geworden: «Als internationale Lieferketten zusammenbrachen, zeigte sich, dass Importe nicht immer zuverlässig sind.
Eingriffe ins Kulturland
Er wirft den Behörden und Umweltorganisationen vor, mit Angstszenarien zu arbeiten. Die Hochwassergefahr werde dramatisiert, um grössere Schutzbauten und Eingriffe zu rechtfertigen. «Natürlich kann es Jahrhundertereignisse geben», räumt Kuhn ein. «Aber Hochwasserschutz muss differenziert betrachtet werden – nicht alles rechtfertigt pauschale Eingriffe ins Kulturland.» Die Realität entlang der Thur sieht Kuhn anders: «An vielen Stellen wurde der Unterhalt der Schutzbauten über Jahre vernachlässigt.» Anstatt frühzeitig Schäden zu beheben, sei abgewartet worden – nun werde Panik verbreitet.
Besonders beunruhigen Rolf Kuhn die Folgen für Bauernfamilien, welche salopp gesagt Haus und Hof verlieren könnten. Er selbst ist mit 2,3 Hektaren extensiven Wiesen mit Qualität betroffen, was sicherlich nicht existenzbedrohend wäre. «Was bleibt, wäre vielerorts eine Steinwüste.» Dabei fordert die IG Thur keine pauschale Ablehnung von Renaturierungsmassnahmen – sondern eine differenzierte Planung: «Wo es Sinn macht, wie zum Beispiel bei der Murgmündung , sind wir dabei. Aber wertvolles Ackerland muss geschützt werden.» In aktuellen Verhandlungen, etwa im Raum Weinfelden–Bürglen, zeigt sich die IG Thur kompromissbereit. Gemeinsam mit Grundeigentümern und Behördenvertretern werden Lösungen gesucht. Von Seiten der IG Lebendige Thur und anderer Umweltverbände sieht Kuhn hingegen wenig Entgegenkommen: «Sie fordern immer Maximalvarianten, ohne selbst Opfer zu bringen.»
Wenig Mitspracherecht
Die IG Thur erhebe sich dabei nicht zur Fundamentalopposition. Kuhn betont: «Wir wollen eine Balance zwischen Natur- und Landwirtschaftsschutz finden.» Den Wert von Wasser, Land und Sonnenlicht müsse man wieder stärker ins Bewusstsein rücken: «Man kann Gold besitzen – aber davon wird man nicht satt.» Selbstkritisch räumt Kuhn ein, dass die IG Thur in der Vergangenheit zu wenig Öffentlichkeitsarbeit geleistet habe. Heute will man aktiver kommunizieren und die Bevölkerung aufklären.
Auch wenn diese direkt nichts beeinflussen kann, denn: «Das Projekt läuft unter zweckgebundene Massnahmen und muss nichts vors Volk kommen.» Doch die IG wolle Druck ausüben. So auch auf Gemeindevertreter, welche zu einem Teil Einfluss auf die Entwicklung des Konzept Thur 3 haben. So bei der Thur Konferenz, bei dieser verschiedene Interessenvertreter Einsitz haben. Entschieden wird im klein besetzten Thur Rat, wo die Vertreter aus Forst- und Landwirtschaft nur beratend dabei sind, Stimmrecht haben Amtsleiter und die Regierung.
Sein Fazit fällt klar aus: «Wir sind bereit zu reden, wir sind kompromissbereit. Aber von der Gegenseite kommt bisher: nichts.»
Von Desirée Müller
Landverlust in Zahlen
Zur Veranschaulichung: 167 Hektar entsprechen etwa 111 Fussballfeldern. Auf dem Land, welches durch das Konzept Thur 3 verloren gehen könnte, könnten grob gerechnet entweder Weizen für eine Million Brote produziert werden, 388'000 Liter Rapsöl oder 2'550 Tonnen Zucker aus Zuckerrüben. Oder Futter für 1440 Kühe, welche rund 11 Millionen Liter Milch produzieren.
Was ist Thur 3
Thur 3 ist ein Hochwasserschutz- und Renaturierungsprojekt im Kanton Thurgau. Es soll den Flussraum der Thur verbreitern und neue Auenlandschaften schaffen. Kritisiert wird das Projekt, weil dabei wertvolles Kulturland verloren gehen könnte.